Karneval & Kafka

Für viele ist Karneval die schönste, für nicht wenige aber die schlimmste Zeit des Jahres. Der Zwiespalt hängt wohl damit zusammen, dass Brauchtum und traditionelle Werte abgelöst wurden von Komasaufen, Ballermann-Musik, und einfallsloser Kostümierung.

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Franz Kafka wird zugeschrieben: „Das Böse weiß nicht, dass es böse ist, sondern glaubt, das Gute zu sein.“ Und so verhält es sich zuweilen auch mit dem Karneval. Er weiß nicht, dass er peinlich ist. Das jedenfalls erklärte mir meine Nachbarin Bini Pötter.

Für viele ist Karneval die schönste, für nicht wenige aber die schlimmste Zeit des Jahres. Der Zwiespalt hängt wohl damit zusammen, dass Brauchtum und traditionelle Werte wie Maskerade, Politikpersiflage und kulturelles Liedgut zunehmend abgelöst wurden von Komasaufen, Ballermann-Musik, und einfallsloser Kostümierung.

Einerseits, so versuchte ich zu relativieren, sind nicht alle Karnevalfans niveaulose Zeitgenossen und Busengrapscher, die sich auf Wagenparaden kreativer Einfallslosigkeit dem jahrtausendealten Motto „Hinein Onkel Otto“ hingeben. Andererseits kann ich persönlich dem närrischen Treiben auch nicht viel abgewinnen. Anders als bei Bini liegt das bei mir in einem Kindheitstrauma begründet.

Denn, als kleiner Junge wollte ich im Kinderkarneval – so wie jeder Junge und wie auch mein Freund Manni – stets Cowboy werden. Oder Indianer. Wenigstens aber Pirat. Werden wollte ich irgendwas mit Waffe. Eine Pistole, Pfeil und Bogen, ein Säbel. Aber meine Familie war arm, und Mutter ordnete deshalb an, die Kostüme meiner älteren Cousine Lisbeth aufzutragen. Und so malte mich Mutter in jenem ersten Jahr blau an, zog mir eine weiße Mütze über den Kopf und ich wurde in der Vorschulgruppe des Kindergartens „Schlumpf“. Mein Gejammer war groß, und Mutter vertröstete mich: „Aber im nächsten Jahr, mein Junge, wirst Du Cowboy, versprochen. Das nächste Jahr kam, ich war mittlerweile stolzer Erstklässler der Heintje-Vörmeyer-Grundschule zu Collinghorst. Und wieder speiste mich Mutter damit ab, wie arm wir doch wären. Kein Cowboy-Hut, keine Indianer-Feder schmückte den Kopf. Stattdessen eine zarte Krone aus Plastik. Und um die Hüften anstelle eines Revolvers nur ein Röckchen aus Tüll. Ich wurde „Prinzessin“. Aber im nächsten Jahr, so versprach es Mutter erneut, da wirst Du Cowboy, ganz bestimmt.

Im Laufe des nun folgenden Jahres gab ich, schlau und misstrauisch, wie ich mich entwickelte, sämtliches Taschengeld im örtlichen Spielwarenfachhandel aus und investierte heimlich in ein Spielzeugwaffen-Arsenal, das unter meinem Bett gut vor dem mütterlichen Zugriff versteckt wurde. Als der Rosenmontag vor der Tür stand, sah ich Mutter abermals erwartungsvoll an: Wieder nix, wieder kein Geld. Und ich hasste meine Cousine mehr als je zuvor – denn ich wurde „Fliegenpilz“! Verhöhnt und verspottet. Lediglich mein Freund Manni spendete Trost, denn er stellte fest: In jenem Jahr war ich der best-bewaffnetste Fliegenpilz, den je eine ostfriesische Grundschule gesehen hat.

Es prägt mich bis heute. Allen viel Spaß beim Karneval, ob sie ihn nun mögen oder nicht.

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